Leitartikel zum Jahresbericht 2013 der Schweizerischen Vereinigung Industrie und Landwirtschaft SVIL.
Die Agrarpolitik 2014 – 2017 (AP 14-17) hat im Parlament unter den betroffenen Bauern und bei den Organisationen und Verbänden, die sich mit der Land- und Ernährungswirtschaft befassen, Kontroversen ausgelöst.
Die Hauptänderung der Agrarreform (AP 14-17) besteht in einem Paradigmenwechsel bei der finanziellen Stützung der Landwirtschaft. Die Befürworter der AP 14-17 argumentierten, dass die in der Schweiz vor ca. 20 Jahren eingeführten Direktzahlungen zu stark auf die Produktion und zu wenig auf Umwelt und Ökologie ausgerichtet waren. Deshalb seien die Direktzahlungen, welche bisher vor allem der Stützung der Einkommen der produzierenden Landwirte dienten, abzubauen. Unter Beibehaltung des bisherigen Zahlungsrahmens sollten die Landwirte stattdessen Direktzahlungen als Entgelt hauptsächlich für zu erbringende Pflegeleistungen für Umwelt und Ökologie erhalten. Weiter sind die Befürworter der AP 14-17 der Auffassung, dass sich die produzierende Landwirtschaft gegen die anvisierte Grenzöffnung im oberen Preissegment unter Ausschöpfung von Effizienzreserven und mittels der sogenannten Qualitätsstrategie behaupten könne. Die AP 14-17 ist dieser Argumentation gefolgt.
Nachfolgend soll dargelegt werden, warum die am Boden und an den erneuerbaren Naturprozessen orientierte produzierende Landwirtschaft ohne Einkommensstützung nicht bestehen kann. Damit soll der Kern der AP 14-17 zuhanden einer erneuten Überprüfung zur Diskussion gestellt werden.
Die Direktzahlungen an die Landwirtschaft wurden eingeführt, um die Ernährungssicherheit durch eine genügende Inlandproduktion zu sichern, ohne Überproduktionen zu provozieren. Solche wurden im Rahmen der damals geltenden staatlichen Marktordnungen durch die bisher üblichen Preisstützungen verursacht, weil der Produzent umso mehr Geld erhielt, je mehr er produzierte. Durch die Einführung der Direktzahlungen, die den Landwirten unabhängig von der Produktionsmenge ausgerichtet werden, sollte die Entstehung von Überschüssen, die nachträglich vernichtet werden mussten, verhindert werden. Die Einkommensstützung für die produzierende Landwirtschaft wurde aber weiterhin als notwendig anerkannt.
Dies gilt heute offenbar nicht mehr. Es wird vielmehr behauptet, dass die bisherige Schutzpolitik verhindert habe, den Landwirt zu veranlassen, bestehende Effizienzreserven und Marktchancen durch Qualitätssteigerung von Produkten zu nutzen. Diese Argumentation ist jedoch nicht stichhaltig. Da die Wertschöpfung nur über die Verarbeitung gesteigert wird, kann die Landwirtschaft aus systematischen Gründen bezüglich der Wertschöpfung mit der Industrie und dem damit verbundenen Dienstleistungssektor nicht mithalten. Dies gilt in allen Gebieten der Welt, in denen sich die Industrie zum dominierenden Sektor der Wirtschaft entwickelt hat. Diese Gebiete umfassen heute den grössten Teil der Erdoberfläche. Daher existiert fast überall die Landwirtschaft nur (noch) in dem Ausmass, wo sie in irgendeiner Form unterstützt wird. Dabei kann es sich um Importbeschränkungen, Exportsubventionen, Produktionsbeihilfen oder Direktzahlungen verschiedener Art handeln. Die Form der Unterstützung ist von den unterschiedlichen Produktions- und Absatzbedingungen abhängig. Dass sie aber notwendig ist, gilt generell.
Warum ist das so? Warum ist die Wertschöpfung in der Landwirtschaft grundsätzlich zu niedrig, um sich gegenüber der Industrie ohne Schutz behaupten zu können? Dafür gibt es zwei Ursachen: die unterschiedlichen Wettbewerbsbedingungen und die unterschiedlichen Produktionsbedingungen.
Erstens zu den Wettbewerbsbedingungen: Markt ist nicht gleich Markt und Konkurrenz nicht gleich Konkurrenz. Die landwirtschaftlichen Güter sind im Wesentlichen homogene, d.h. vergleichbare Güter, also solche, deren Qualität im Prinzip die gleiche ist, unabhängig vom Ort, wo sie produziert werden und von wem sie produziert werden. Sie sind ohne weiteres austauschbar. Ihre Qualität ist mehr oder weniger die gleiche, ob sie vom Landwirt X oder vom Landwirt Y produziert werden. Es ist daher dem Konsumenten bzw. dem Händler und erst recht dem industriellen Verarbeiter im Prinzip gleichgültig, von wem er das Getreide, die Kartoffeln, den Salat und die Äpfel, die Milch und den Käse bezieht. Allein der Preis entscheidet (von wenigen Nischenprodukten abgesehen). Konkurrenz heisst in der Landwirtschaft daher immer Preiskonkurrenz. Dabei ist eine Vielzahl von Landwirten beteiligt, die sich gegenseitig Konkurrenz machen, wobei jeder nur über einen kleinen Teil des Gesamtangebots verfügt. In der ökonomischen Theorie spricht man in diesem Fall von vollkommener Konkurrenz. Ein Landwirt kann seine Produkte nur absetzen, wenn er höchstens den gleichen Preis verlangt wie die anderen Landwirte, und er kann seinen Marktanteil nur vergrössern, wenn er den Preis senkt. Dann müssen aber die anderen nachziehen. Der Markt lässt daher nur geringe Margen zwischen Preis und Kosten zu.
Dies ist grundsätzlich anders bei den Industrieprodukten. Die Industrieprodukte unterscheiden sich in ihrer Qualität je nach der Art der Verarbeitung. Man spricht von heterogenen, d.h. unterscheidbaren Gütern. Aus wenigen Naturprodukten werden Tausende von Industrieprodukten. Die Konkurrenz kann sich deswegen auch bei hohen Preisen in Form von Qualitäts- und Markenkonkurrenz abspielen. Eine Palmolive-Seife ist eine bessere Seife als Schmierseife. Man spricht in der ökonomischen Theorie in diesem Fall von monopolistischer Konkurrenz. Dank der Imagination, d.h. der Erfindungsgabe des Menschen, können die Produkte umso stärker differenziert werden, je mehr man sich von der Naturgrundlage entfernt. Der Produzent kann relativ zu den Kosten höhere Preise verlangen und trotzdem den Konkurrenten ausstechen, indem die neuen Produkte oder Produktvarianten den Konsumenten einen echten ¬– oder auch nur vermeintlichen – Zusatznutzen stiften. Die Margen zwischen Preisen und Kosten sind daher in der Industrie prinzipiell wesentlich höher als in der Landwirtschaft. Kurz: Die Landwirtschaft liefert also aus systemischen Gründen vor allem homogene Güter und erst die Industrie kann diese zu differenzierten Produkten mit Alleinstellungsmerkmalen vermarkten.
Zweitens zu den Produktionsbedingungen: In der Landwirtschaft ist der Bo-den gleichzeitig Standort und Produktionsgrundlage, während er für die Industrie nur Standort ist. Die Höhe der Produktion hängt daher für den land-wirtschaftlichen Betrieb in entscheidendem Ausmass von der zur Verfügung stehenden Bodenfläche ab. Diese bildet daher einen begrenzenden Faktor. Es gilt das Gesetz vom abnehmenden Grenzertrag, demgemäss ein zusätzlicher Arbeitsaufwand auf einer bestimmten Bodenfläche nur einen unterpro-portionalen Ertragszuwachs liefert. Der Ertrag kann zwar durch steigenden Maschineneinsatz und Zufuhr von Hilfsstoffen, d.h. von Düngemitteln und Chemikalien aller Art, mengenmässig weiter gesteigert werden. Aber auch diese Steigerung ist begrenzt, weil die Landwirtschaft in die ökologischen Kreisläufe eingeordnet ist. Das hat einmal zur Folge, dass die Maschinen auf ihren Einsatz im jahreszeitlichen Rhythmus warten müssen. Sie kommen im Jahresverlauf nur kurz zum Einsatz. Man kann ja nicht die gleichen Maschinen für das Ackern, das Säen, das Jäten, das Ernten usw. verwenden. Es droht daher ständig, dass zu hohe fixe Kosten anfallen, die nicht amortisiert werden können. Das trifft auch auf Maschinenringe zu, welche trotz etwas intensiverer Nutzung während der Erntezeit die meiste Zeit des Jahres gleichwohl nicht genutzt werden können. Zum andern ist aber auch die Möglichkeit zum Einsatz von Düngemitteln und Chemikalien begrenzt, weil diese die Kräfte, die in der Natur wirken, zwar verstärken, aber nicht ersetzen können. Ihr Einsatz kann daher nicht in gleichem Ausmass wie in der Industrie maximiert werden. Man muss sich auf ein Optimum beschränken. Dabei muss auch auf die gesundheitliche Qualität der Produkte (Pflanzen und Tiere) Rücksicht genommen werden.
Demgegenüber kann die industrielle Fabrik auf einer geringen Standortfläche eine grosse und immer grössere Produktionsmenge herstellen, indem die Materialien, welche die Produktionsgrundlage bilden, von aussen zugeführt werden. Sie stammen zum grossen Teil aus Rohstoffen, die sich unter der Erde an bestimmten Lagerstätten angesammelt haben und nun sozusagen einfach auf ihre Ausbeutung “warten”. Diese kann von Jahr zu Jahr gesteigert werden, ohne dass wesentlich mehr zusätzliche Bodenfläche verbraucht wird. Der Grossteil der Rohstoffvorräte liegt ja nicht auf, sondern unter dem Boden. Mit immer grösseren Maschinen, die im Jahresverlauf ohne Unterbruch eingesetzt werden, wird sowohl die Ausbeutung der Rohstofflager wie die Produktion der Halbfabrikate und Fertigprodukte aufgrund der Möglichkeiten zur Massenproduktion immer effizienter. Die Maschinen können voll genutzt und die Amortisation der Maschinen kann gewährleistet werden, indem die Produktion bei gleichzeitiger Senkung der Durchschnittskosten auf geringer Bodenfläche in dem Ausmass erweitert wird, als sich der Kapitaleinsatz erhöht. Dieser Ausweitung sind im heutigen Wachstumsprozess kaum Schranken gesetzt. Auch kann die Industrie ihre räumlich an sich schon konzentrierten Standorte viel leichter verschieben und so Standortvorteile besser nutzen.
Aus beiden Gründen – wegen höherer Margen aufgrund der monopolistischen Konkurrenz und der Möglichkeit zur ständigen Ausweitung der Rohstoffbasis im Zusammenhang mit den Kostenvorteilen, welche die Massenproduktion bietet – ist die Wertschöpfung in der Industrie systematisch höher als in der Landwirtschaft. Dies ergibt sich aus objektiven Gegebenheiten, unabhängig von der Einzelleistung des Landwirts.
Unterschiede in der Wertschöpfung bestehen allerdings auch innerhalb der Landwirtschaft. Der generelle Nachteil der geringeren Wertschöpfung in der Landwirtschaft ist unterschiedlich ausgeprägt in den verschiedenen Regionen der Welt. Er ist dort weniger spürbar, wo noch genügend Boden zur Verfügung steht, der praktisch nur landwirtschaftlich genutzt werden kann, wo also der Verkehrswert des Bodens gleich dem landwirtschaftlichen Ertragswert ist. Hier ist die Möglichkeit zur ständigen Produktionssteigerung bei geringerem Arbeits- und höherem Maschineneinsatz eher gegeben. Dies gilt vor allem für die USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Teile von Südamerika. Umgekehrt ist der Nachteil der geringeren Wertschöpfung der Landwirtschaft wesentlich spürbarer in einem Industrieland wie der Schweiz, wo der Boden vielfachen Nutzungsansprüchen ausgesetzt ist, insbesondere der baulichen Nutzung, hinter der die grössere Kaufkraft derjenigen steht, die von der höheren Wertschöpfung in der Industrie und in dem mir ihr verbundenen Dienstleistungssektor profitieren. Sie können daher wesentlich höhere Bodenpreise bezahlen. Dies bedeutet, dass der Verkehrswert des Bodens weit höher ist als der landwirtschaftliche Ertragswert, soweit dieser überhaupt noch positiv ist. Dies verunmöglicht eine Ausdehnung der Produktionsfläche und damit einer Betriebsgrösse, die mit den Grossbetrieben in den Weltregionen mit billigem Boden vergleichbar wäre.
Die Benachteiligung der Landwirtschaft gegenüber der Industrie wird dadurch weiter verschärft, dass auch die Landwirtschaft in den Exportländern, die auf billigem Boden wirtschaftet, wegen der grundsätzlichen Nachteile der Landwirtschaft gegenüber der Industrie darauf angewiesen ist, die Produktionsausweitung stets weiter zu forcieren. Dazu muss der Export erhöht werden. Um dies zu bewerkstelligen, genügt es nicht, auf dem Weltmarkt zu den tieferen Produktionspreisen anzubieten, die sich aus der Verfügbarkeit billigen Bodens ergeben, vielmehr muss zusätzlich durch staatliche Exportsubventionen nachgeholfen werden. Dies bedeutet, dass die Weltmarktpreise noch unter den Produktionspreisen in den Exportländern zu liegen kommen.
Aus diesen Gründen ist die Vorstellung, dass sich die Schweizer Landwirt-schaft ohne Grenzschutz nur mit Zahlungen für ökologische Leistungen allein mit den Instrumenten allfälliger Effizienzsteigerungen und einzelner qualitativer Neuerungen aufrechterhalten könne, absurd. Diese können auf keinen Fall genügen, um
- die prinzipiell niedrigere Wertschöpfung der Landwirtschaft im Verhältnis zur Industrie,
- die in der Schweiz wesentlich geringeren Möglichkeiten zur Auswei-tung der Produktionsfläche der einzelnen Betriebe wegen der geogra-phischen Bedingungen und der hohen Bodenpreise sowie
- der hohen Exportsubventionen der Exportländer
auszugleichen.
Damit sie einen genügend hohen Beitrag zur Ernährungssicherheit leisten kann, benötigt daher die schweizerische Landwirtschaft eine ausreichende dauerhafte Stützung des Einkommens. Diesem Erfordernis ist sowohl in der Aussenwirtschaftspolitik wie in der Gestaltung der Direktzahlungen Rechnung zu tragen. Dabei ist zu erwähnen, dass die bisherigen Direktzahlungen aussenhandelspolitisch nach wie vor unbestritten sind und folglich absolut kein Anlass besteht, diese im Konzept zu ändern oder gar zu beseitigen. Werden die Einkommensstützungen für die produzierende Landwirtschaft aufgegeben, wird die Ernährungssicherheit in der Schweiz im Kern untergraben.
Den ökologischen Erfordernissen ist durch entsprechende bei der Produktion einzuhaltende Mindeststandards Rechnung zu tragen. Pflegeleistungen der Landwirte, die zusätzlich zur Produktion einen wesentlichen Arbeitsaufwand erfordern, müssen jedoch gesondert bezahlt werden.
Dem drohenden Verlust der Ernährungssicherheit, können wir nur begegnen, wenn die Einkommensstützung der Landwirtschaft, der Grenzschutz und der Schutz des Landwirtschaftslandes im Inland nicht auseinanderdividiert und einzeln preisgegeben oder aus Budgetgründen unterschiedlichen Politikbereichen in Zukunft zugeordnet werden. Sie gehören unteilbar zusammen und müssen als Kerngehalt der Agrarpolitik anerkannt und gesichert bleiben. Diese Fragen sollten möglichst bald — vor Ablauf der geltenden AP 14-17 — diskutiert werden.
Örlikon, 20. Juli 2014
Schweizerischen Vereinigung Industrie und Landwirtschaft SVIL

