Der Prokopfbedarf an Wohnfläche in der Schweiz steigt kontinuerlich: In den letzten dreissig Jahren wuchs die Wohnraumfläche um 44 Prozent – die Bevölkerung aber nur um 17 Prozent. Pro Kopf bedeutet das eine Steigerung um 7 Prozent pro Jahr. Die gängige Meinung von Herr und Frau Schweizer ist, dass eine niedrige Wohndichte – Wohnen ausserhalb der Ballungszentren – Lebensqualität bedeutet. Nun behaupten die Jungen Grünen in ihrem Argumentarium der Zersiedelungsinitiative genau das Gegenteil.
Mehr Lebensqualität durch eine hohe Wohndichte?
Sagt zum Beispiel der ETH-Professor für Architektur und Städtebau Kees Christianse in einem Interview mit dem Migrosmagazin (1). Und in einem Artikel in der WOZ wird die neu gebaute Siedlung Sihlbogen im Zürcher Aussenquartier Leimbach als positives Beispiel angeführt, wie dichtestressfreies Wohnen aussehen könnte. (2) Nachhaltige Quartiere ist das Schlagwort.
Quartiere eignen sich gut für die Umsetzung des Nachhaltigkeitsziels durch die Berücksichtigung beispielsweise von ökologischen und möglichst energieautarken Bauten, der sozialen und generationenübergreifenden Durchmischung der Bevölkerung sowie des Langsamverkehrs. In einem nachhaltigen Quartier zu wohnen sei nicht nur attraktiv, sondern spare auch Fläche und wirke damit gegen die Zersiedelung. Anonyme Agglomerationsgebiete können dank nachhaltigen Quartieren belebt und verdichtet werden. Sie seien daher die logische Antwort auf das Zersiedelungsproblem. (3) Wer im Areal B der Siedlung Sihlbogen in Zürich Leimbach wohnt, verpflichtet sich, auf ein Auto zu verzichten.
Die Stadt von morgen
Bereits vor über hundert Jahren platzten in allen Industrienationen die Städte aus den Nähten, Tag und Nacht verstopfte der Verkehr die Strassen. Um 1900 enstanden die ersten Reformbewegungen und das Motto “zurück zur Natur”: “Es bedarf einer Neugründung aus dem Leben und Geist unserer Zeit heraus, um das Ideal in vollem Maße zu verwirklichen. Eine solche Neugründung wäre die Gartenstadt.”, schrieb der Vertreter der Gartenstadtbewegung Heinrich Hart. In der Gartenstadt sah Hart die Vorteile von Landverbundenheit und kreativem städtischem Umfeld verbunden. Verwirklicht wurde dieser Genossenschaftsgedanke in Gemeinschaften wie der Obstbaukolonie Eden nördlich von Berlin. (4)
Bauhaus-Architekt Le Corbusier hingegen wollte am liebsten die Vorstädte auslöschen, das ganze Stadtzentrum von Paris niederreissen und neu aufbauen. “Das Haus muss weg von der Strasse, die Begriffe des ‚Strassenzugs‘ und des ‚Hinterhofs‘ sollen verschwinden. Eine entsprechende Anzahl von Wohnungen wird in einem Gebäude zusammengefasst; durch diese Konzentration auf einen Punkt gewinnt man eine beträchtliche Bodenfläche; das Wohngebiet erhält Grosszügigkeit und die Landschaft kann in die Gesamtkonzeption mit einbezogen werden: durch Glaswände dringt sie in die Wohnung ein – ‚die Natur ist ein Teil des Mietvertrags‘.” Mit diesen Worten erklärt Le Corbusier seine Idee von der “vertikalen Gartenstadt”. (4) Da in den dank Stahlbeton nun möglich gewordenen Hochhäusern Platz für alle sei, brauche die Stadt nicht mehr zu wachsen und dabei die Landschaft zu zerstören. – Ironischerweise waren es solche Träume, die dazu beitrugen, jene Betonwüsten mit Mietskasernen enstehen zu lassen, die heute fast jede Grossstadt umstellen und die die “Flucht aufs Land” wiederum verstärkten. Le Corbusiers Projekt der Retortenstadt Chandigarh ist gescheitert, aber noch heute steht die Millionenstadt für hohe Lebensqualität. Obwohl der Grossbaumeister viele Schattenseiten hatte, die erst später ans Licht kamen, sind seine avantgardistischen Wohnideen heute aktueller denn je.
Betonwüste versus Siedlungsbrei
Die Zersiedelung ist im Wesentlichen auf drei Ursachen zurückzuführen: Zunehmender Wohnflächenbedarf, Bevölkerungswachstum und Flucht aufs Land.
Jeden Tag wird eine Grünfläche von mehr als 8 Fussballfeldern zubetoniert. Dabei gehen wertvolle unverbaute Landschaften verloren. Darunter leiden die Natur, die Artenvielfalt, die Landwirtschaft, aber auch die Menschen, indem unser gewohntes Landschaftsbild zerstört wird. Im Weiteren verursacht die Zersiedelung zusätzlichen Verkehr, weil die Verkehrswege länger werden. Durch diese aufwendige Verkehrsinfrastruktur werden neben dem Boden Unmengen weiterer Ressourcen verbraucht. (5)
Wir Schweizer sind ein Volk von Mietern und nicht von Hausbesitzern, aber trotzdem befürchten viele, dass ein nationaler Einzonungsstopp die Wohn- und Arbeitskosten in der Schweiz explodieren lassen und weiteren Sozialghetto-Hochhäusern Tür und Tor öffnen würde. Die Zersiedelungsinitiative sei deshalb vehement abzulehnen, meint der Hauseigentümerverband. Ein Hochhaus ist kein Verdichtungsinstrument, wie man meinen könnte. Baut man in die Höhe, muss man dafür am Boden mehr Fläche frei halten. Es sei denn, die Ausnützungsziffer wird erhöht, um die Verdichtung zu fördern. Solche Bestimmungen fehlen bis heute.
Eine Verdichtung, welche vor allem zu mehr Beton führt und einen grauen Alltag hinterlässt, ist weder erstrebenswert noch wird sie von der Bevölkerung mitgetragen. Sinnvolle Raumplanung braucht also auch Ideen zur Wohn- und Lebensqualität. Verdichtete Siedlungen müssen sozialen Austausch ermöglichen, Grünflächen aufweisen sowie kinder-, familien- und rentnerInnenfreundlich sein. So wird die Siedlungsentwicklung nach innen attraktiv. Leider fehlen solche Bestimmungen im RPG. (6)
Ein neues Stück Stadt
Unter diesem Titel entwarfen 2006 eine Handvoll QuartierbewohnerInnen und Fachleute die Vision einer nachhaltigen und in mancher Hinsicht vorbildlichen Bebauung des Kalkbreite-Areals in Zürich. Über 200 Menschen aus allen Altersklassen und mit unterschiedlichen Bedürfnissen verzichten dabei auf einigen individuellen Komfort zugunsten eines selbstbestimmten, gemeinschaftlichen Lebensstils. Ist Leben auf engem Raum nicht beklemmend? Nicht, wenn sich die Architektur an den sozialen Bedürfnissen der Bewohner orientiere. Die Kalkbreite fördert gezielt neue Wohnformen: Kleinwohnungen werden zu Clustern mit grossem Gemeinschaftsraum und Küche gruppiert, ein Grosshaushalt mit ca. 20 Wohnungen und 50 BewohnerInnen unterhält eine Grossküche (welche das Gemüse von einer Gemüsegenossenschaft bezieht) und einen gemeinschaftlichen Ess- und Wohnraum, verschiedene Grosswohnungen bieten sich für Wohnen in Gruppen an. (7)
Nachhaltigkeit ist im Projekt Kalkbreite kein leeres Schlagwort: Die Genossenschaft hat sich zum Ziel gesetzt, nicht nur baulich die Voraussetzungen für die 2000-Watt-Gesellschaft zu schaffen, sondern die MieterInnen auf einen schonenden Umgang mit Ressourcen zu verpflichten. Anstelle einer Tiefgarage wurden im Neubau über 300 ebenerdige Veloabstellplätze erstellt. Die BewohnerInnen müssen auf das Halten eines Privatwagens verzichten, die an der Kalkbreite Arbeitenden auf das Auto für den Arbeitsweg. Auch der Verbrauch der Ressource Raum wird begrenzt: Durchschnittlich soll eine Person an der Kalkbreite nicht mehr als 35 m2 Wohnfläche nutzen. Der Durchschnitt der Stadt Zürich liegt bei 41 m2.
Ein Modell für die Stadt der Zukunft? Das Interesse an der Genossenschaft und ihren Projekten ist gross, die Tagespresse berichtet regelmässig und positiv über die Kalkbreite und deren neues Projekt Zollhaus. Die steigende Anzahl an Einladungen zu Tagungen und Kongressen zu Themen rund um genossenschaftliches Leben, Wohnen und Arbeiten, Nachhaltigkeit und Suffizienz zeigt, dass diese Ansätze auch für ein Fachpublikum relevant sind.
Zersiedelungsinitiative: Die Antwort auf das mangelhafte Raumplanungsgesetz
Die Jungen Grünen fordern in ihrer Initiative, dass es keine neuen Bauzonen mehr geben soll, ohne dass eine gleich grosse Fläche ausgezont wird. Die Zersiedelungsinitiative ist ihre Antwort auf das nach wie vor mangelhafte Raumplanungsgesetz. Dessen grösste Schwäche sei, dass es kein Limit für die Bauzonen gebe. Solange man immer weiter einzonen könne, werde es keinen Anreiz zur inneren Verdichtung geben.
Doch die simple Kompensation bestehender Fruchtfolgeflächen ist problematisch. Fachleute der Bodenkundlichen Gesellschaft der Schweiz kommen zu einem ernüchternden Befund: Fachlich fundierte Kenntnisse über Langzeitwirkungen von grösseren solchen Eingriffen fehlen. FFF sind ja nicht irgendwelche Böden, sie sind die besten, ackerfähigen Standorte unseres Landes. Oft in mühsamer Arbeit entstanden, ist ihre Güte das Ergebnis einer jahrtausendealten Bewirtschaftung durch Generationen von Bauern und Bäuerinnen. Insofern sind sie auch Kulturgüter ersten Ranges, die man eigentlich weder verbauen noch transferieren dürfte. (8)
In letzter Zeit ist Bewegung in die Raumplanung gekommen. Die Zweitwohnungsinitiative, die Zürcher Kulturlandinitiative sowie das revidierte Raumplanungsgesetz (RPG) wurden von der Bevölkerung angenommen. Ist das Zersiedelungsproblem deswegen gelöst? Überhaupt nicht. Erstens werden die Gesetzesänderungen häufig entweder gar nicht (z.B. Kulturlandinitiative) oder zumindest mangelhaft umgesetzt. Vor allem aber sind die bisherigen Änderungen mangelhaft. Sie strukturieren die Raumplanung neu, stoppen aber die Zersiedelung nicht. Die Grundsatzfrage, wie wir die Zersiedelung tatsächlich verhindern und nicht nur lenken können, bleibt unangetastet. (5) Die erste Revision des Raumplanungsgesetzes (RPG I) ist am 3. März 2013 durch die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger angenommen und am 1. Mai 2014 in Kraft gesetzt worden. Der Vollzug bleibt mangelhaft. (9)
Die Unterschriftensammlung der Zersiedelungsinitiative läuft bis am 21. Oktober 2016. Und was geschieht nach der Annahme?
Aus dem Argumentarium der Zersiedelungsinitiatve: Würden die nach der Annahme der Initiative vorhandenen nicht überbauten Bauzonenreserven mit bisheriger Dichte überbaut, hätte es genug Platz für das Bevölkerungswachstum bis 2035, was nach mittlerem Bevölkerungsszenario 0.7 Millionen entspricht (die Reserven werden nach RPG auf der Grundlage des Bevölkerungsszenarios bestimmt). Wird auf der gleichen Fläche moderat verdichtet und werden auch die inneren Verdichtungsreserven massvoll genutzt, entsteht ein Potenzial von bis mehr als 3 Millionen zusätzlichen Einwohnern. Damit kann sogar das hohe Bevölkerungsszenario bis 2060 gut bewältigt werden. Solange dieses Potenzial brachliegt, sind auch keine steigenden Mietpreise zu befürchten. Anders gesagt, beobachtete Mietpreissteigerungen sind auf andere Gründe als die Raumplanung zurückzuführen. (6)
Gelingt im 21. Jahrhundert, was hundert Jahre zuvor scheiterte: Verdichtung auf eine Art in die Tat umzusetzen, die die ästhetischen, ökologischen, sozialen, familien- und kinderfreundlichen Aspekte nicht aus den Augen verliert? (10)
Weiterführende Links:
1: Interview mit ETH-Professor für Architektur und Städtebau Kees Christianse im Migrosmagazin
2: Von wegen «Dichtestress»: Artikel in der WOZ vom 14.5.2015
5: Website zur Initiative “Zersiedelung stoppen”
6: Argumentarium “Zersiedelung stoppen”
7: Website der Genossenschaft Kalkbreite und Beitrag dazu auf SRF
8: Fruchtfolgeflächen nicht überbauen: Gastkommentar in der NZZ vom 4.4.2015
9: Artikel auf Agrarinfo: Der Boden hat mehr als zwei Dimensionen
10: So hässlich ist die Schweiz (Artikel in der TagesWoche und Video)






