Das Spannungsfeld Industrie und Landwirtschaft bei internationalen Handelsabkommen. Zu diesem Thema veranstaltete die SVIL eine Tagung im Zürcher Rathaus. Dabei zeigte sich, dass – trotz gewissen Gemeinsamkeiten – die Interessen von Landwirtschaft und Industrie erheblich auseinanderklaffen.
Die Vorträge inkl. Leinwandpräsentation, die anschliessende Diskussion sowie die Powerpoint-Präsentationen finden Sie auf svil.ch.
An der 100jährigen Jubiläumstagung der Schweizerischen Vereinigung Industrie und Landwirtschaft SVIL trafen mit den beiden Hauptrednern, Dr. Jean-Phillippe Kohl, Interim-Direktor des Verbandes der Schweizer Metall-, Elektro- und Maschinenindustrie (SwissMEM) und der Volkswirtschafter Prof. Dr. Martin Binswanger zwei recht unterschiedliche Analysen der Situation der Schweizer Landwirtschaft im Umfeld internationaler Freihandelsabkommen aufeinander.
Schweizer Industrie braucht Exportmärkte
Zu Beginn schilderte Jean-Phillippe Kohl die Situation der Schweizer Wirtschaft und Landwirtschaft aus der Sicht der MEM-Industrie. Mit 84 Milliarden Franken Umsatz und 67 Milliarden Exportumsatz bestreitet die MEM Industrie 7 Prozent des Bruttoinlandproduktes und 30 Prozent der gesamten Schweizer Exporte. In der Schweiz beschäftigen die Swissmem-Unternehmen 320 000 Angestellte und bildet 20 000 Lehrlinge aus. 95 Prozent der Betriebe sind KMU mit weniger als 500 Stellen und Zusammen 66% der Arbeitsplätze. Der durchschnittliche MEM-Betrieb hat 250 Mitarbeiter.
Obwohl die Schweiz mit den MEM-Betrieben im Vergleich zu anderen EU-Ländern trotz hoher Löhne und Produktionskosten immer noch einen sehr grossen Anteil an Industriebetrieben hat, ist die MEM-Industrie stark vom Internationalen Handel abhängig. Im Ausland beschäftigt die Branche mit über über 500 000 Angestellten mehr Menschen als in der Schweiz. 79 Prozent der hergestellten Produkte gehen in den Export. Davon 60 Prozent in die EU. Zum Vergleich: Gesamthaft Exportiert die Schweiz 30 Prozent aller hergestellten Güter und Dienstleistungen ins Ausland. Bei Spitzenbranchen wie Chemie, Pharma und Uhren beträgt der Exportanteil allerdings sogar 80 Prozent.
Chinesische Schrauben zu Schweizer High-Tech
«Die Schweizer Industrie ist einem enormen Konkurrenzdruck ausgesetzt. Das hat für die Konsumenten durchaus Vorteile, weil der Konkurrenzdruck zu günstigeren Preisen und einem breiteren Warenangebot führt.» Gratis sei das freilich nicht zu haben. Das Rezept der MEM-Industrie ist Spezialisierung auf hochwertige und eben auch hochpreisige Qualitätsprodukte. «In der Schweiz wird kein Draht und werden keine Schrauben mehr Produziert. Die kaufen wir in China und verarbeiten sie hier zu Hightech.»
Auf den Export sei die Schweizer Industrie allein schon deshalb angewiesen, weil der Schweizer Binnenmarkt zwar vergleichsweise kaufkräftig, aber schlicht zu klein sei. «Machen wir uns nichts vor. Die Schweiz hat acht Millionen Einwohner. Das ist gerade mal die Bevölkerung einer mittelgrossen Stadt in China.»
Tatsächlich machen die Exporte von Wahren und Dienstleistungen rund die Hälfte des Schweizer Bruttoinlandproduktes.Deshalb ist die MEM-Industrie entschiedener Befürworter neuer Freihandelsabkommen um Handelshindernisse, insbesondere Zölle, aus dem Weg zu räumen. «Bis jetzt haben wir in der EU praktisch ungehinderten Marktzugang. Internationale Handelsabkommen werden eigentlich von der World Trade Organisation WTO geregelt, aber die WTO ist seit Jahren praktisch blockiert. Deshalb verfolgt der Bund verfolgt die Strategie separater Strategie einzelner Freihandelsabkommen.»
Wachstumsmärkte in Schwellenländern
Neben den EU-Ländern – vor allem Deutschland – seien die wichtigsten Handelspartner die USA mit 34 Millionen Exportfranken. Dort, aber auch in Ländern wie Indien Russland, Brasilien und anderen sei noch deutlich Luft nach oben.
Das zeigt sich am Beispiel Lateinamerikas und dem Freihandelsabkommen Mercosur. Im Rahmen von Mercosur exportierte die Mem-Industrie im letzten Jahr allein nach Brasilien Güter im Wert von 360 Millionen Franken pro Jahr. Nach Argentinien nur im Wert von 135 Millionen. Die Exporte nach Paraguay und Uruguay sind vorläufig noch geringfügig, es bestehe aber grosses Potential. Allein die Exporte nach Argentinien haben sich zum Beispiel zwischen 2016 und 2017 verdoppelt. Swissmem hofft, durch weitere Freihandelseinkommen die Umsätze noch massiv zu steigern.
Chancen im Freihandel für Landwirtschaft?
Die Schweizer Landwirtschaft befindet sich nach Kohls Ansicht in einer durchaus vergleichbaren Situation: Der Binnenmarkt sei zu klein. Zwar sei ein grosser Teil der Konsumenten durchaus bereit für Schweizer Qualitätsprodukte tiefer in die Tasche zu greifen, aber ein zunehmender Anteil «preissensibler» Kunden würde die Nahrungsmittelproduzenten durch den Einkaufstourismus stark unter Druck setzen.
Die besonderen Qualitätsmerkmale der Schweizer Landwirtschaft wie ökologische Produktion, Tierwohl und Nachhaltigkeit hätten nunmal ihren Preis und würde die Produktivität senken. So sei die Landwirtschaft überproportional von staatlicher Unterstützung abhängig. «Von allen Wirtschaftszweigen hat sie die geringste Produktivität und die tiefsten Einkommen. So geht es einfach nicht weiter. Die Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten sind sehr motiviert. Aber es wird für sie immer schwieriger. Eine Defensive Politik ist hier nicht zielführend.»
Auch die Landwirtschaft sei auf den Freihandel angewiesen. Und bei bestimmten Abkommen, zum Beispiel mit den USA, Kanada und den Mercosur-Staaten müsste die Schweiz auch im Agrarsektor Konzessionen machen. Swissmem will dabei helfen, die Abkommen erträglich zu gestalten. Und schliesslich lägen im Freihandel auch für die Landwirtschaft Chancen.
Industrie und Landwirtschaft sollen gemeinsam marschieren
Auch für die Nahrungsmmittelproduktion gäbe es Nischen für Qualitätsprodukte im Hochpreissegment. Denn in den sogenannten Schwellenländern wächst auch eine eine kaufkräftige Konsumentenschicht heran. Schon jetzt gibt es zum Beispiel in China 1,6 Millionen Millionäre. 2020 werden es 4 Millionen sein. In Brasilien leben 150›000 Millionäre.
«Die Schweiz hat für die Landwirtschaft immer noch einen substantiellen Binnenmarkt. Schweiz hat immer noch substantiellen Binnenmarkt. Aber eben nur von etwa 5 Millionen Konsumenten.» Mit der Exportunterstützung durch die Aussenhandelsorganisation «Global Switzerland Enterprises» könnten laut Kohl auch die Bauern profitieren und sich das Verhältnis zwischen Industrie und Landwirtschaft entspannen. «Vielleicht könnten wir so in Zukunft sogar ein Stück gemeinsam marschieren.»
Entscheid für Landwirtschaft ist Entscheid gegen den Markt
Das sieht Professor Dr. Matthias Binswanger freilich etwas anders. Der Bund hat mit der Annahme der Ernährungssicherheitsinitiative einen klaren Auftrag. Der Verfassungsartikel 104a verlange klar die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln durch die Sicherung der Grundlagen für die einheimische Landwirtschaftliche Produktion, insbesondere des Kulturlandes. «Schliesslich war es ja gerade auch die Frage der Ernährungssicherheit die überhaupt zur Gründung der SVIL führte.» Nämlich als die Schweiz bitter erfahren musste, dass der Lebensmittelimport im Kriegs und Krisenfall keinesfalls garantiert war.
Wie der entsprechende Gesetzesartikel in der Praxis auszulegen sei, bliebe eine Interpretationsfrage. «Aber die Ernährungssicherheit soll nicht durch Importe gewährleistet werden müssen und das setzt einen gewissen Schutz vor den Preisschwankungen auf den Weltmärkten voraus.»
Wichtig sei, dass die Schweiz die Bedingungen der Landwirtschaft selbst bestimmen könne. Und da seien zum Beispiel Labels und Zertifikate bei Importprodukten allenfalls eine Notlösung. «Nur die einheimische Produktion bietet uns die Möglichkeit über Agrar- und Umweltpolitik selbst zu bestimmen.» Die Probleme und Defizite der Schweizer Landwirtschaft seien nicht mit der Industrie zu vergleichen. Die ständig geforderte Produktivitätssteigerung ist keine Lösung. Würde die Landwirtschaft mit gleichen Ellen gemessen wie die Industrie sei die Botschaft des Marktes schlicht «Aufhören.» Aber der politische Entscheid für die Ernährungssicherheit sei eben eine Entscheidung gegen den Markt. Nachhaltige Landwirtschaft ist zur Zeit international nicht konkurrenzfähig. Zum Vergleich: «Die Wertschöpfung der Pharmaindustrie liegt bei 300 000 Franken im Jahr pro Beschäftigten. In der Landwirtschaft bei 30 000.
Einzelhandel rahmt Produktivitätsgewinne ab
Der Grenzschutz (Einfuhrzölle) steht bei Freihandelsabkommen unter Druck. Das müsste man durch zusätzliche Direktzahlungen ausgleichen, wozu aber der politische Wille fehlt.
Sicher sei die Qualität eine Chance. Aber die Qualität der potentiellen Exportprodukte würden nicht von den Bauern, sondern von den Verabeitungsbetrieben gewährleistet. «Der Einzelhandel will möglichst homogene Produkte. Bauern können untereinander qualitativ nicht konkurrieren. Sondern nur über die Produktivität.» Aber durch grössere Produktivität wächst die Nachfrage nicht. «Wenn Milch billiger wird, wird deshalb nicht mehr Milch getrunken, sondern es sinkt nur das Einkommen der Milchproduzenten.»
Seit 1990 ist das Einkommen der Produzenten um 30 Prozent gesunken. Die Wertschöpfung findet nicht auf dem Bauernhof statt, sondern bei den Verarbeitern und vor allem im Einzelhandel. Während die Bauernbetriebe immer weniger verdienen, hat sich die Einzelhandelsmarge in der Schweiz vervielfacht. «30 Prozent der Wertschöpfung gehen an die Bauern. Der Rest an Verarbeiter und Einzelhandel. Migros und Coop haben Handelsmargen von 40 respektive 30 Prozent. Die Migrosmarge ist etwas höher, weil Migros auch viele Eigenmarken produziert.» Zum Vergleich: Andere vergleichbare europäische Anbieter müssen sich mit Margen zwischen 25.5 Prozent (REWE; Deutschland), 20 Prozent (Carrefour Frankreich) 10 Prozent (Edeka, Deutschland) oder sogar nur 3,8 Prozent (Morrisons, UK) zufrieden geben. Die hohen Lebensmittelpreise in der Schweiz liegen also nicht an den Bauern, sondern an den Handelsmargen.
Zum Konkurrenzdruck: «Palmöl aus Indonesien steht in direkter Konkurrenz einheimischen zum Rapsöl. Der Internationale Preis für Palmöl liegt bei 73 Franken pro pro 100 Kilo. In der Schweiz dank Schutzzöllen bei über 200 Franken. Der durchschnittliche Preis für das ökologischere Rapsöl liegt bei 248 Franken. Sollten die Handelshemmnisse durch ein Freihandelsabkommen mit Indonesien fallen, würde der Rapsanbau in der Schweiz verschwinden. Ähnlich sieht es mit anderen Rohstoffen aus. Kanada, die Mercosur-Staaten, Mexiko und Indonesien würden gern massenhaft billiges Getreide, Fleisch, Öl und Gemüse in die Schweiz exportieren. Zu preisen, mit denen die hiesigen Bauern unter keinen Umständen mithalten könnten. Südfrüchte, die hier eh nicht wachsen seien unproblematisch und beim Weinbau sei die Schweiz durchaus konkurrenzfähig weil hier der Anbau und die Veredelung zum Endprodukt meist in einer Hand liegen.
Landwirtschaft bleibt Sonderfall
Aber was ist mit den von Swissmem angedeuteten Chancen für hochwertige Nischenprodukte?
«Gemäss Bundesrat verspricht man sich Exportsteigerungen bei Käse, Schokolade, Energy-Drinks, Zuckerwahren, Nahrungsmittelzubereitungen und geröstetem Kaffee». Abgesehen vom Käse und der Schokolade mit hohem Milchanteil allesamt Produkte mit denen die Schweizer Landwirtschaft kaum oder gar nicht zu tun hat, sondern wo billige Rohstoffe aus dem Ausland importiert, veredelt und wieder exportiert werden können. «Nach dem Argument der komparativen Vorteile müsste man die Landwirtschaft in der Schweiz aufgeben. Die Opportunitätskosten sind viel zu hoch. Nur mit massiven Subventionen und Grenzschutz lässt sich die Landwirtschaft mit einem hohen Anteil von kleinflächigen Bergbauernbetrieben aufrecht erhalten.» Die Landwirtschaft ist eben keine Maschinenindustrie, die Draht und Schrauben aus China importieren und zu Hightech verarbeiten kann. Nach Binswangers Ansicht müsste man den Landwirtschaftsbetrieben mehr Marktmacht zuteilen, in dem man ihnen selber ermögliche, ihre Rohstoffe zu Qualitätsprodukten zu veredeln, wie es im Weinbau schon passiert. Auch der Direktverkauf biete zusätzliche Einkommensmöglichkeiten. «Aber gerade die Bergbauern sind räumlich weit weg von den Märkten.» Das die Lebensmittelhersteller die Produkte selber herstellen und so buchstäblich den Rahm abschöpfen wollen, sei ein Interessengegensatz der nicht wegzudiskutieren sei. Aber die, von vielen Wirtschaftsfachleuten propagierte Industrialisierung der Landwirtschaft sei eine Sackgasse. «Um Nicolás Gómez Davilla zu Zitieren: “Die Zivilisation geht ihrem Ende zu, wenn die Landwirtschaft aufhört, eine Lebensform zu sein und zur Industrie wird.“ Die Landwirtschaft ist nicht die Textilindustrie, die aus gutem Grund nicht mehr in der Schweiz produziert, sondern ein Sonderfall und muss auch so behandelt werden.»
Zur SVIL
Die SVIL wurde 1918 als Folge der Ernährungskrise von Schweizer Industriellen und ihrem ersten Geschäftsführer, Prof. Hans Bernhard, im Rathaus zu Zürich gegründet. Als Folge des 1. Weltkrieges brach der europäische Freihandel völlig zusammen. In Folge fehlten der Schweiz in kurzer Zeit rund 150’000 Tonnen Lebensmittel. Es zeigte sich, dass ein hochentwickelter Industriestaat auf eine eigene Landwirtschaft nicht verzichten darf, auch wenn der Import aus ökonomisch rückständigen Ländern zu tieferen Preisen durchaus schon immer möglich war. Eine solche Beschaffungsmöglichkeit aus Billiglohnländern ist ein asymmetrischer Handel zu Gunsten der reichen Länder, der jedoch in das Gegenteil umschlägt, wenn bedingt durch Kriege, Klima und andere Krisen Verknappungen auftreten. Weil die Störungsanfälligkeit des Freihandels im Lebensmittelbereich sich für Wirtschaft und Gesellschaft verheerend auswirkt, haben die Industrievertreter der Schweiz daraus die Lehre gezogen und beschlossen, in der Schweiz eine eigene Landwirtschaft wieder aufzubauen, welche in der Lage ist, das Land bei Störungen der Zufuhr zu ernähren. Die Schweizerische Vereinigung für Innenkolonisation und industrielle Landwirtschaft, die 1968 in Schweizerische Vereinigung Industrie und Landwirtschaft umbenannt wurde (SVIL).


