Viele Nutztiere haben das Glück, den Sommer auf der Alp verbringen zu können – nur die Hühner nicht. Ist das Huhn nur noch eine Ware?
Der Markt rund um Huhn und Ei ist ein Paradebeispiel für den globalisierten Wirtschaftsmarkt und veranschaulicht besonders deutlich die Industrielle Landwirtschaft und die damit verbundenen Probleme: Die zunehmenden Seuchen und Antibiotikaresistenzen, die Umweltverschmutzung, die Monopolisierung, die ökonomischen Abhängigkeiten, den internationalen Handel, die Exportsubventionen.

Vor zehn Jahren hat ein Schweizer durchschnittlich neun Kilogramm Hühnerfleisch pro Jahr konsumiert, heute sind es zwölf. Inzwischen gibt es in der Schweiz mehr Hühner als Einwohner: Die zehn-Millionen-Grenze ist überschritten (1). Und der Hunger nach Eiern und Geflügel und damit die Hühnermast und Eierproduktion nimmt weiter zu.
Zwischen Industrie und Landwirtschaft
Wir kennen die Bilder der Pouletfabriken, wo jedem Tier grad mal ein bisschen mehr als eine DIN-A4 grosse Fläche zur Verfügung steht. In der Schweiz gilt eine Limite von 30 Kilogramm Lebendgewicht pro Quadratmeter. Das heisst, diesen (knappen) Platz müssen sich 15 bis 20 schlachtreife Hühner teilen. Die gesetzliche Höchstgrenze liegt bei 18’000 Tieren – allerdings nur für Masthühner, die mehr als 42 Masttage alt werden. Erfolgt die Schlachtung vor dem 28. Tag, sind 27’000 Tiere erlaubt (2). Die Grössen der Betriebe sind aber immer noch überschaubarer: Die gesamte Poulet-Produktion der Schweiz hätte in Amerika in 2 (zwei!) Produktionsanlagen Platz. Im Land der Industrienahrung generieren 8.5 Milliarden “Chlorhühnchen” über 30 Milliarden Dollar (3). Fairerweise muss man sagen, dass niemand mehr von Landwirtschaft und Höfen spricht; da gehts um “Production Facilities”.

Die gigantische Produktion der industriellen Tierhaltung ist nur mit kapitalintensiven Technologien möglich und deshalb weltweit auf nur wenige Länder, wenige Tierarten und wenige Unternehmen beschränkt. Mit der Rassegeflügelzucht befassen sich heute praktisch nur noch Liebhaberzüchter, die mehr auf die “Schönheit” als auf den Ertrag achten. Moderne (Hybrid)sorten werden bei Standardmast schon nach 21 Tagen zu Mistkrazerli. Nach 32 Tagen Mast eignen sich die Vögel zum Verkauf als ganzes Poulet. Für die Zerlegung in Brustfilets, Schenkel und Flügel beträgt das Ziel-Schlachtgewicht 1500-1700 Gramm; das ist bei konventioneller Mast nach 37 Tagen erreicht.
Doch vielleicht wird schon bald kein Huhn mehr eine Feder lassen müssen – schon Winston Churchill hat es prognostiziert (1931, Strand Chronicle):
“We shall escape the absurdity of growing a whole chicken in order to eat the breast or wing, by growing these parts separately under a suitable medium. Synthetic food will, of course, also be used in the future. Nor need the pleasures of the table be banished. That gloomy Utopia of tabloid meals need never be invaded.” (4)
Und über 80 Jahre später sind wir tatsächlich fast so weit: lab meat setzt der Tierquälerei ein Ende! Aus tierischen Stammzellen werden im Reagenzglas Muskelzellen produziert, die dann verklebt und aromatisiert werden (5) … oder in 3D-Druckern als “Biotinte” zu fleischähnlichen Produkten geformt (6).
Der synthetisch hergestellte Hamburger schmeckt und riecht wie “echt” – doch hat das noch mit Fleisch zu tun? Uns graust vor dem “frankenmeat”, wir wünschen uns natürliche Lebensmittel und stellen uns lieber das Huhn vor, das in der Fernsehreklame zum Lieferanteneingang des Grossverteilers geht, sein Ei direkt in die Schachtel legt und wieder nach Hause in seinen schönen sauberen Stall watschelt.

Die Schweizer wollen gutes, gesundes Essen
Doch die Realität sieht anders aus: In der industriellen Geflügelwirtschaft werden Hybridtiere verwendet. Masthybriden zeichnen sich durch sehr viel höhere und schnellere Gewichtszunahmen aus als herkömmliche Rassen und auch als Legehybriden. Die Hähnchenmast von Legehybriden zum Beispiel würde für das gleiche Mastendgewicht mehr als die doppelte Mastdauer und doppelt so viel Futter brauchen. Wie die Kühe wurden auch die Hühner spezialisiert – die einen auf Fleisch, die andern auf Eier.
Bei fast allen Tieren kommt es zum Mastende zu einer Skelettverkrümmung und Schäden im Kniegelenksbereich, so dass keine normale Beinstellung mehr möglich ist. 9 % der Tiere können nicht mehr stehen oder gehen (7).
Auch kleinere Bestände, die direkt ab Hof verkauft werden, sind aus Rentabilitätsgründen meistens Hybriden. Die Hochleistungstiere werden immer krankheitsanfälliger, deshalb müssen sie stärker mit Antibiotika und anderen Medikamenten behandelt werden (8).

Sind Schweizer Poulets besser?
Die Frage müsste eigentlich heissen: Was ist ein Schweizer Poulet?
“In der Schweiz hergestellt” kann auch ein chinesisches Poulet aus US-Zucht sein, sofern es in der Schweiz “bearbeitet” wurde. Dazu genügt schon, wenn das Fleisch hier mariniert wird (8).
Und selbst wenn die Masthühner in der Schweiz geboren werden: Die beiden marktbeherrschenden Systembetriebe SEG (Vertragsbetriebe der Coop) und Optigal (das Pendant bei Migros) beziehen alle Elterntiere aus dem Ausland. Sie werden als frisch geschlüpfte Küken in bis zu 48 Stunden dauernden Transporten in die Schweiz importiert und legen dann die Eier, aus denen die “Endprodukte” schlüpfen.
Und trotzdem ziehen wir das Schweizer Poulet dem ausländischen vor. Neun von zehn der in der Schweiz gemästeten Poulets werden in “Besonders Tiergerechter Stallhaltung” (BTS) gehalten, und immerhin jedes dreizehnte hat “regelmässigen Auslaufs ins Freie” (RAUS, 9).
Auch Tageslicht (in der EU reicht Kunstlicht und in Amerika gibt’s Licht für 23 Stunden, damit möglichst viel gefressen und schnell Gewicht zugelegt wird) oder artgerechte, erhöhte Ruheflächen sind in der Schweiz obligatorisch und sollen zum Tierwohl beitragen (10: Die Tierwohlbestimmungen der AP 14-17), während andere Bestimmungen wie die maximale Besatzungsdichte die Seuchengefahr drastisch reduzieren und den Medikamenteneinsatz entsprechend verkleinern.

Giganten im Hühnerstall
Über drei Viertel des Schweizer Pouletmarktes wird von Micarna und Bell kontrolliert. Ihre Rolle beschränkt sich nicht auf die Schlachtung und Verarbeitung der Tiere – meistens werden die Produzenten mit Exklusivverträgen gebunden. Der Auftraggeber wählt die Masthybriden, liefert Eintagsküken, gibt vor was gefüttert wird, stellt nötigenfalls den Veterinär zur Verfügung und übernimmt die schlachtreifen Tiere zur Verarbeitung in seiner Schlächterei.
Die Zweinutzungshybriden, die in gewissen Werbungen erscheinen, werden ein Nischenprodukt bleiben: Ihre Leistung ist nicht hoch genug und ihre Dimensionen passen nicht in die Installationen der Schlachthäuser, weil sie nicht so gross und fett sind.
Auch ohne Exklusivvertrag wären die Produzenten abhängig von den Grosskonzernen oder Patentbesitzern. Die Leistungsfähigkeit der Hybriden wird nicht vererbt. Die Mastbetriebe können, wollen sie die gleiche Leistung behalten, die Jungtiere nicht selber nachziehen, sondern müssen sie immer von Neuem kaufen. Wir kennen das bereits vom Hybrid-Saatgut.
Die Folge dieser Marktkonzentration: Es gibt kaum geschmackliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Masthybriden, industrielles Pouletfleisch hat kaum Geschmack, ist sehr wasserhaltig und trocknet beim Kochen schnell aus.

Bäuerliche Hühnerhaltung
Hühner waren bis ins letzte Jahrhundert ein „Nebenprodukt“ der Landwirtschaft, Frauen und Kinder kümmerten sich um sie und irgendwann wurden sie zu Suppe oder Sonntagsbraten. Im Zuge der Industrialisierung der Landwirtschaft wurde “das fordistische Produktionssystem auf das biologische Material Huhn angewendet und entsprechend gestaltet zu einem Massenprodukt entwickelt (degradiert)”. (11)
Dass sich die Industrialisierung in der Hühnerhaltung schneller und konsequenter durchgesetzt hat als in andern Teilen der Landwirtschaft, erklärt sich auch durch die viel grössere Rentabilität der Hybriden. Sogar Demeterbetriebe arbeiten mit Hybriden.
Rassehühner werden praktisch nur von Klein- und Hobbyzüchtern ge- und erhalten und kaum gekreuzt. Die Tiere werden anfälliger und empfindlicher.
Was, wenn man sie mit andern Rassen oder Tieren aus andern Beständen kreuzen würde? Könnte man so nicht standortangepasste Rassehühner züchten mit denen man rentabel arbeiten könnte?
Auch wenn die Rentabilität nicht die der Industriepoulets erreichen würde: “Es sollte möglich sein, eine Produktion ohne Hybriden zu machen. Aber man darf nicht in die Falle der Spezialisierung gehen” (12).
Diversität? Reiner Luxus
Als Konsequenz der Globalisierung beherrschen zwei Firmen die Genetik von drei Vierteln allen Mastgeflügels weltweit (13). Das bringt Abhängigkeit für den Produzenten und Eintönigkeit für den Konsumenten.
Mehr Diversität und Abwechslung auf dem Teller ist reiner Luxus. Ein Huhn aus der Fabrik kostet heute kaum noch etwas. Pouletfleisch gibt’s bereits für einen Franken pro 100 Gramm. Geflügel ist inzwischen billiger als frisches Gemüse aus der Region.

Weiterführende Links:
- Das globale Huhn, Artikel von Ulrich Petschow und Anita Idel
- Massenmast bei Hühnern soll einfacher werden
- Projekt Cocorico: Hühner in der Stadt Genf
- Statistik Schweiz: Landwirtschaftsindikatoren, Einkommen Tierhaltung
- Im Akkord zur Schlachtreife
- Der Umzug aus der Fabrik in den Wintergarten von Adrian Krebs
- Lifestock and Poultry USDA World market and trade report
- Fleischatlas
- Bäuerliche Hühnerhaltung, Aviforum, Zollikofen
- Video: Science Times – Labormeat
- Broiler production video:

