Dieser Artikel erschien zuerst in der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift 8/2013.
Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit wird derzeit das Landesversorgungsgesetz (LVG) revidiert. Doch die Stille trügt: Das Gesetz gehört zu den wesentlichsten Grundpfeilern einer sicheren und stabilen Schweiz! In Anbetracht des zunehmenden Ressourcenproblems auf unserer Welt und unsere Importabhängigkeit sollte die Revision kritisch und konstruktiv begleitet werden. Ich möchte hier vor allem die konzeptionelle, branchenübergreifende Seite des Revisionsentwurfs zum LVG betrachten, da diese bisher kaum je öffentlich ausgeleuchtet wurde.
Anforderungsprofil an ein modernes LVG
Eine moderne Konzeption des LVG sollte aus risikotheoretischer Sicht vor allem:
- Risikounspezifisch (also möglichst generell) gültig sein;
- Den Doppelauftrag «Prävention» und «Massnahmen für den Ernstfall» beinhalten;
- Direkte und indirekte Risiken berücksichtigen;
- Kurze und längerdauernde Risiken berücksichtigen;
- Stabilitätsfördernde Systemstrukturen unterstützen und der Bildung verletzlicher Systemstrukturen entgegenwirken;
- Die modernen Risiken vernetzter Systeme (z.B. Importabhängigkeit) einbeziehen;
- Frühzeitig Einfluss auf Angebot und Nachfrage nach überlebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen nehmen können.
Ziele und Umsetzung der Revision
Die Revisionsziele gemäss Begleitbericht sind ambitiös: Die wirtschaftliche Landesversorgung soll gestärkt und aktualisiert werden, um den heutigen Herausforderungen flexibel begegnen zu können. Dagegen kann wirklich kaum etwas eingewendet werden.
Die Vielfalt der möglichen sowie der – angeblich – unmöglichen Risiken (die berühmten «Schwarzen Schwäne» gemäss Buchautor Nassim Taleb) machen es erforderlich, sich nicht mehr nur auf bestimmte Risiken einzustellen. Natürlich sind kriegerische Ereignisse noch möglich, und machtpolitische Gefahren als Folge der Eurokrise und auch den dadurch reduzierten Mitteln für die nationalen Sicherheitsapparate in Europa sogar hochaktuell. Doch das Risikospektrum ist heute leider noch weitaus grösser (Verknappungen, Bevölkerungswachstum, Logistikstörungen, mittelbare Folgewirkungen entfernter Konflikte, etc.).
Hier liegt sicher ein grosses Verdienst der Revision, indem sie sich ausdrücklich «an weitgehend unbekannten potenziellen Risiken mit teils diffusem Ursprung» orientieren und dem LVG den Odem reiner «Kriegsvorsorge» nehmen will.
Mängel der Revision
Gemessen am beschriebenen Anforderungsprofil und den selbstgesteckten Revisionszielen weist der revidierte Gesetzestext jedoch ernste Mängel und Widersprüche auf. Vor dem Hintergrund des Sicherheitspolitischen Berichts 2010 (SIPOL B 2010) springen einem aus dem revidierten LVG einige Widersprüche förmlich ins Auge.
Eliminierte «vorsorgliche Massnahmen»
Heute ist der Zweck des LVG (Art. 1) «vorsorgliche Massnahmen», sowie «Massnahmen … bei schweren Mangellagen» an lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen zu regeln (also ein Doppelauftrag). Der revidierte Zweckartikel 1 spricht neu jedoch nur noch von der Regelung «schwerer Mangellagen». Die «vorsorglichen Massnahmen» sollen im revidierten Zweckartikel also offenbar nicht mehr aufgeführt werden. Die Weglassung der «vorsorglichen Massnahmen » im Zweckartikel bewirkt aber eine Einschränkung für das LVG und die Verordnungsgeber und nicht eine Stärkung.
Eliminierte Beachtung «mittelbarer Risiken»
Heute schreibt das LVG (Art. 3) vor, dass der Bund «für den Fall mittelbarer oder unmittelbarer» Risikosituationen die Landesversorgung sichern will; Das ist auch sinnvoll: Die Beachtung mittelbarer Wirkungen entspricht vernetztem Denken, das in der Zeit der Globalisierung mit zunehmenden Interdependenzen zwingend ist. Der revidierte Gesetzesentwurf spricht jedoch nur noch von Massnahmen für den «Fall einer unmittelbar drohenden oder bereits eingetretenen schweren Mangellage» (Art. 5). Die mittelbaren Risiken werden im revidierten Gesetz also nicht mehr erwähnt, obwohl deren Relevanz der Vernetzung wegen stark zugenommen hat.
Dies steht auch im Widerspruch zum SIPOL B 2010, S. 19. Dieser hält warnend fest, dass es ausdrücklich eben auch gerade indirekte Risiken sind, die der Schweiz den Zugang zu den Rohstoffen versperren können. Nur ein Wortspiel? Keineswegs: Mit der Reduktion der präventiven Massnahmen auf «unmittelbar drohende Mangellagen» entsteht die Gefahr, dass z.B. wegen Gruppendruck, sich widerstreitenden politischen oder finanziellen Erwägungen, etc. Massnahmen gegen einen zu tiefen Selbstversorgungsgrad – für sich alleine ja noch kein unmittelbares Risiko – verzögert werden, bis die Risiken – gemäss Gesetz – «unmittelbar» drohen. Dann jedoch kann es schon zu spät sein!
Ist das so realitätsfern? Wohl kaum, man erinnere sich: Solange in der Geldwirtschaft die Risiken erst «mittelbar» erkennbar waren, konkurrenzierten sich Sicherheits- und Gewinninteressen. Die Gewinninteressen haben natürlich obsiegt. Und als die Risiken 2008 dann «unmittelbar» dastanden, war man nicht vorbereitet… Niemand kann sich wünschen, dass sich sowas wiederholt.
Das Risiko langdauernder Krisen
Der Begleitbericht zur Revision (S. 12) schreibt, dass «Krisen stets vorübergehende Ausnahmeerscheinung» seien. In der Tat finden sich im revidierten LVG kaum Massnahmen zur Vorbeugung und Überbrückung von Versorgungskrisen längerer Dauer. Auch dies steht wieder im Widerspruch zum SIPOL B 2010. Dieser schreibt: «Wird ihr (der Schweiz, Anm. Verfasser) der Zugang zu Rohstoffen… über längere Zeit nicht mehr gewährleistet, kann das die Schweiz, ihre Versorgung und damit ihr wirtschaftliches Wohlergehen, erheblich beeinträchtigen» (S. 19). Und notabene: Warum kaufen andere Staaten in grossen Mengen Ackerland im Ausland?
Es irritiert, wenn die Schweiz – vermutlich als einziger Staat der ganzen Welt – das Risiko langdauernder Versorgungskrisen für beendet erklären will.
Verbot der Strukturpolitik?
Vielleicht eine der kritischsten Stellen in der Revision. Der Begleitbericht schreibt (S.12): «Die Massnahmen der wirtschaftlichen Landesversorgung haben sich auf die bestehenden Strukturen zu stützen und dürfen diese auch dann nicht verändern, wenn unter versorgungspolitischen Gesichtspunkten andere … Strukturen wünschenswert wären.» Sonst «besteht die Gefahr, dass … der Wettbewerb der Volkswirtschaften und damit die Entwicklung des Wirtschaftsstandortes Schweiz Schaden nimmt.»
Wozu vernachlässigte Strukturpolitik führen kann, sollen zwei Beispiele zeigen: Ein Verzicht auf Strukturpolitik in der Bankenwelt führte zu derart zentralisierten Strukturen, dass sie 2008 schliesslich «too big to fail» waren und uns Milliarden kosteten, und noch schlimmer, uns politisch erpressbar machten. Und global zeigte die Finanzkrise auf, wie ein sich selbst überlassener Markt für lebenswichtige Leistungen, ohne Einbau von Sicherheitsstrukturen wie Dezentralisierung, Redundanz und Eigenmittelversorgung, nach anfänglichen Jahren der Blendung und des Erfolges zu gesellschaftlich katastrophalen Ergebnissen führen kann. Daraus sind die Lehren zu ziehen. Das zweite Beispiel kommt aus der Nahrungsmittelversorgung: Der Verzicht auf Strukturpolitik unter nahezu Freihandels-bedingungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte fast zum Verschwinden des Brotgetreideanbaus in der Schweiz, da der Ackerbau relativ zu wenig finanzielle Anreize mehr bot. Die Mühlen verarbeiteten 1913 nur noch knapp 15% Inlandweizen. Als dann eine schwere Mangellage eintrat, fehlten die zuvor vernachlässigten Produktionsstrukturen im Agrarbereich. Dies trug schliesslich erheblich zur Hungersnot und zum Generalstreik bei.
Die Gewährleistung einer sicheren Landesversorgung erfordert die Existenz von Strukturen, die Risiken vorbeugen, und im Akutfall begegnen können.
Vom Grundsatz der (bei gutem Wetter) bewährten Marktwirtschaft sollte dabei aber nicht abgewichen werden. Freier Markt ist jedoch kein Selbstzweck; Er ist darauf ausgelegt, Strukturen auszubilden, die vor allem kostengünstig sind. Somit kann er aus systemimmanenten Gründen nicht auch noch öffentliche Sicherheitselemente hervorbringen, da diese immer kosten. Daher weicht die Ordoökonomie auch regelmässig und differenziert (!) vom Grundsatz des freien Marktes ab, wenn es um die Bereitstellung öffentlicher Güter wie z.B. dem Schutz der Gesundheit, der Umwelt, systemrelevanter Kredit-institute, oder der öffentlichen Sicherheit geht. Genau gleich muss – auf Grundlage des LVG – auch zum Schutz der wirtschaftlichen Landesversorgung vorgegangen wer den können.
Versorgungssicherheit – aber keine Strukturen dazu schaffen? Das tönt wie «Wasch mich, aber mach mich nicht nass!»
Das vergessene Risiko der Importabhängigkeit
Trotz technischem Fortschritt ist es seit Jahren nicht gelungen, den tiefen Selbstversorgungsgrad der Schweiz mit Nahrungsmitteln (nur noch ca. 50%) zu erhöhen. Der SIPOL B 2010 identifiziert die Importabhängigkeit der Schweiz klar als sicherheitsrelevantes Risiko (S.19 und 65). Umso mehr erstaunt es, dass die Reduktion der hohen Importabhängigkeiten im Revisionsentwurf oder dem Begleitbericht mit keinem Wort erwähnt werden! Dies steht also erneut im Widerspruch zum SIPOL B. Dabei geht es auch um Souveränität: Je grösser die Auslandabhängigkeit – gerade im Bereich Ernährung – ist, desto wahrscheinlicher, dass Nahrungsmittel zum politischen Druckmittel eingesetzt werden.
Wenn schon eine graue Liste genügt, Staatsmacht zu brechen, was passiert dann erst, wenn mit der Beschränkung des Zugangs zu Nahrungsmitteln gedroht werden kann? Daher wirft es auch Fragen auf, wenn die Revision die Landwirtschaft mit ihren naturbedingt langen Vorlaufzeiten nach hinten verlegt, nämlich erst in den Bereich über «Bewirtschaftungsmassnahmen gegen schwere Mangellagen» (Art. 29) – statt nach vorne, in den Bereich der Vorbereitungsmassnahmen im Kapitel 2.
Die demographische Entwicklung
Eine Mangellage ergibt sich, wenn Angebot und Nachfrage auseinanderklaffen. Nachdem die Bevölkerungszahl in der Schweiz jährlich netto um rund 80 000 Menschen zunimmt, kommt das LVG wohl nicht darum, sich mit diesem Thema – unter versorgungspolitischen Aspekten – auseinanderzusetzen.
Fazit
Die offiziellen Zielsetzungen der Revision des LVG sind begrüssenswert. Ebenso die Klärung, dass die Landesversorgung kein Relikt aus dem Krieg darstellt. Hingegen liegen im Gesetz konzeptionelle Mängel und ernste Widersprüche zum SIPOL B 2010 vor. Die Revision sollte genutzt werden, um:
- Im Zweckartikel des LVG den Teilauftrag «vorsorgliche Massnahmen», sowie den ausdrücklichen Einbezug der «mittelbaren Risiken» explizit zu betonen;
- Im LVG auch Massnahmen gegen langdauernde Krisen anzudenken;
- Unter Beibehaltung des freien Marktes als Grundsatz diejenigen Strukturen erhalten oder fördern zu helfen, die zur Herstellung des öffentlichen Gutes «Sicherung der wirtschaftlichen Landesversorgung» nötig sind;
- Massnahmen gegen die zunehmenden Risiken der Importabhängigkeit in die Revision einzubauen; die Landwirtschaft ist dabei einzubeziehen;
- Das Thema der demographischen Entwicklung mit zu berücksichtigen.
Der Artikel, wie er zuerst in der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift 8/2013 erschien, als PDF >>>
Zum Landesversorgungsgesetz LVG >>>


