Pestizide werden angewendet, um Schädlinge zu töten. Schaden sie nur Schädlingen? Die im Handel erhältlichen Pflanzenschutzmittel sind offiziell zugelassen und gelten als sicher. Aber wie sicher sind sie wirklich?
André Leu
, Präsident der Internationalen Vereinigung der ökologischen Landbaubewegungen IFOAM, hat hunderte von professionellen Publikationen (peer-reviewed science) zum Thema Pestizide studiert, analysiert, relativiert und, versehen mit zahlreichen Quellenverweisen, organisiert. Sein Buch the MYTHS of SAFE PESTICIDES, welches Anfang 2015 erschien, ist unemotional, sachlich und widerlegt fünf Mären über Pestizide:
1. Rigoros getestet
Wird die Sicherheit der Pestizide rigoros getestet bevor sie zugelassen werden?
Gemäss dem United States President’s Cancer Panel trifft das nicht zu: nur ein paar hundert der über 80’000 chemischen Substanzen, die allein in den USA benutzt werden, wurden getestet. Aber es kommt noch schlimmer: die aktuellen Risikobeurteilungen berücksichtigen jeweils nur die „aktive Ingredienz“ des zu testenden Produktes, ein einzelnes Gift des ganzen Cocktails, und zwar nur auf bereits bekannte mögliche Gesundheitsprobleme. Die ganzen Hilfsstoffe wie Lösungsmittel, Tenside, Wirkungsverstärker u.ä., inerte Stoffe mit denen die „aktive Ingredienz“ gemischt ist wenn sie auf den Markt kommt, bleiben – weltweit – ungetestet. Die Kombination ist sehr viel giftiger als die “aktive Ingredienz” allein, doch die Zusatzstoffe müssen nicht getestet werden und die Kombination schon gar nicht.
Auch dass die heute angewandten Testmethoden wichtige Entwicklungsphasen nicht berücksichtigen ist ein grosser Mangel: André Leu zitiert Studien, aus denen klar wird, dass Pestizide schon in Föten bleibende Schäden anrichten können und berichtet von bis über zweihundert (200) Pestiziden, die in Nabelschnüren von Neugeborenen identifiziert wurden.
2. Nur ein ganz kleines bisschen
Die Geschichte, dass die Giftmengen, die wir einatmen, essen oder trinken zu klein sind um Schaden anzurichten ist eben auch, leider, nur, eine Mär:
Für die Sicherheitstest wird angenommen, dass die Giftigkeit einer Substanz linear zu-, respektive abnimmt. Doch viele der Gifte agieren in kleinen Dosen anders. Ihre Giftigkeit nimmt nicht gleichmässig mit der Dosis ab: sie wechseln ihr Wirkungsfeld, agieren wie Hormone und beeinflussen das Hormonsystem. Das bedeutet, dass bestimmte Chemikalien in einer 1/Millionstel-Dichte “sicher” sein können, während sie sich in tausendmal kleineren Dosen an Hormonen andocken und darauf wirken.
Man nimmt an, dass nahezu 800 Chemikalien das Hormonsystem beeinflussen können. Nur ein Bruchteil davon wurde in Tests untersucht.
3. Biologisch abbaubar
Im bereits zitierten Rapport des United States President’s Cancer Panel steht, dass 23.1% der für den Report getesteten Nahrungsmittel keine Pestizidrückstände enthielten. In andern Worten: über 3/4 der Lebensmittel enthalten mindestens eines der Gifte, auf die es getestet wurde. Und getestet wird nur auf bestimmte Pestizide und nur in ihrer Originalform. Doch Pestizide lösen sich nicht einfach in Nichts auf: sie werden abgebaut und auseinandergebrochen in Einzelteile die nicht unbedingt weniger giftig sind als ihre Summe.
Beim Abbau von Chlorin zum Beispiel (ein in Pestiziden wegen seiner Toxizität gerne verwendetes Gift) entsteht hochgiftiges Dioxin PCDD. Fettlöslich und deshalb auch im Fettgewebe gelagert kriecht das Gift die Nahrungsmittelkette hoch bis in Käse, Schweinefleisch, Muttermilch und so fort (Links am Ende dieses Texts). Kaum ein Test berücksichtigt eventuelle Restsubstanzen.
Auch systemische Gifte (zum Beispiel Neonikotinoide), die auf dem ganzen Organismus wirken und sich in der ganzen behandelten Pflanze verteilen landen auf unserem Teller: Waschen oder Schälen entfernt nur einen Bruchteil des Giftstoffes. Der Rest bleibt und wirkt weiter.
4. Zulassungsbehörden sind vertrauenswürdig
Behörden auf der ganzen Welt erteilen Zulassungen trotz öffentlich zugänglichen peer-reviewed Studien allein auf eigens für den Zweck zusammengestellte, nur auf Herstellerdaten basierte, geheime Studien. Auch nach der Zulassung werden Substanzen und Gemische, deren Schädlichkeit in peer-reviewed Studien nachgewiesen worden ist, nicht proaktiv verboten bis der Hersteller ihre Harmlosigkeit bewiesen hat, sondern die Beweislast bleibt bei der Bevölkerung, die die Umwelt- und Gesundheitsschädlichkeit nachweisen muss.
In andern Worten: Zulassungen, auf der ganzen Welt, sind politisch beeinflusst. Das ist, milde ausgedrückt, nicht vertrauenserweckend. André Leu weist darauf hin, dass die industrielle Befangenheit der Behörden nicht im Sinne der zukünftigen Generationen ist.
Die EU hat das erkannt und überprüft im Rahmen des Programms REACH (Registration, Evaluation und Autorisation Chemischer Stoffe) über 140‘000 chemische Substanzen, die in die EU eingeführt und in der EU vermarktet werden. Zwar werden weder die vermarkteten Giftgemische noch in der EU selber hergestellten Gifte kontrolliert, aber REACH macht einen Anfang zur Transparenz. Die USA, Brasilien, Indien, Japan und andere üben diplomatischen Druck aus und wollen die EU-Regulierung verwässern: REACH behindert schliesslich den freien Handel mit Chemikalien…
Ausführlich beschreibt André Leu den Fall von Glyphosat. Seit über 30 Jahren erschienen und erscheinen immer wieder seriöse Studien, die Korrelation zwischen dem zunehmendem Glyphosatgebrauch und der Zunahme einer ganzen Reihe Zivilisationskrankheiten scheint klar nachgewiesen – trotzdem wurde der Grenzwert für Glyphosatreste in Getreide signifikant angehoben – auf Wunsch von Monsanto.
5. Pestizide sind unabdingbar
Es ist schlicht nicht wahr, dass ohne Pestizide nicht genug Nahrung für alle produziert werden kann.
52 Billionen Dollar gehen jedes Jahr in die konventionelle Agrarforschung; Forschung im biologischen Landbau wird grad mal mit 4/1‘000 dieser Summe unterstützt. Auch wenn man die Extremannahme stehen lässt, dass der biologische Anbau nur 80 Prozent so viel Ernte bringe wie konventioneller: bei diesen Forschungsgeldern ist das ein kleiner Unterschied.
Dass der biologisch-organische und der biologisch-dynamische Anbau in wetterextremen Jahren sogar bessere Erträge bringt als die konventionelle Landwirtschaft zeigen diverse in The Myths of safe Pestizides zitierte Studien. Denn der Wasserhaushalt des Bodens ist besser und dank dem geförderten Bodenleben sind auch weniger Hilfsmittel nötig. 70% aller Bauern weltweit sind Kleinbauern und arbeiten auf kleinen Flächen. Längst nicht alle haben Zugang zu zusätzlichem Wasser, das der Gebrauch von Pestiziden erfordern würde!
In andern Worten: standortangepasste Sorten bodenschonend angebaut bringen einen mehrfachen Gewinn: standortangepasstes Saatgut
- kostet weniger,
- braucht weniger Hilfsmittel,
- zerstört den Boden weniger, dadurch ist
- die Erosion ist kleiner und dafür
- die Wasserspeicherkapazität höher.
Pestizide reduzieren, aber wie?
Pesticide reduction in agriculture – What action is needed? hat Helvetas im Rahmen der Ausstellung “wir essen die Welt” gefragt. Zu Gast bei World Food System Center der ETH und unterstützt von der Stiftung Mercator Schweiz sowie dem Bundesamt für Landwirtschaft BLW, organisierte Helvetas am 3.9.15 dazu ein ebenso interessantes wie gutbesuchtes Symposium.
André Leu war pragmatisch: Aktuelle Pestizid-Zulassungen basieren auf veralteten Studien und unwissenschaftlichen Annahmen. Hunderte von peer reviewed Studien zeigen, dass die aktuell bewilligten Höchstrückstandgehalte von Pestiziden nicht sicher sind. Seriöse Studien sind nötig um die grossen Informationslücken zu schliessen, damit die „ausreichende Sicherheit“ von Pestiziden bestimmt und ihre Zulassungen wissenschaftlich begründt werden kann.
Bis zu dem Moment, wo die Sicherheit der Pestizide garantiert werden kann, ist ihre Reduktion die beste Strategie. Dazu gibt es verschiedene, bewährte Methoden (zum Vergrössern der einzelnen slides bitte darauf klicken):
- Verwenden von natürlichen, ungiftigen Mitteln statt synthetischen Cocktails
- IPM (Integriertes Pest Management)
- Ökofunktionelle Intensivierung (Resourcen so kombinieren, dass Ertrag, Klimaschutz, Biodiversität und Qualität positiv beeinflusst werden)
Weiterführende Links:
- André Leu, the MYTHS of SAFE PESTICIDES
- US National Cancer Institute: Reducing environmental cancer risk, President’s Cancer Panel Annual report 2008/2009
- Bundesamt für Landwirtschaft: Pflanzenschutzmittel in der Schweiz
- Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (REACH) auf wikipedia
- Helvetas: Symposium Pesticide reduction in agriculture – What action is needed?
- wikipedia: Polychlorierte Dibenzodioxine, Phosphor, Schwefelkreislauf
- Dioxine (Umweltbundesamt)





