Wie können Lebensmittel so billig sein, wie sie uns im Laden angeboten werden? Wie kann die Lebensmittelindustrie so günstig produzieren, dass sie trotz Tiefstpreisen rentabel bleibt? Wo sind die Gewinnmargen? Was ist das für Ware, die uns schön verpackt auf einem Gestell liegend anlacht?
Christophe Brusset hat 20 Jahre für die Lebensmittelindustrie gearbeitet. Danach schrieb er ein Buch über seine Erfahrungen mit unserem Essen. Der folgende Artikel basiert auf dem bis jetzt nur auf Französisch erschienenen „vous êtes fous d’avaler ça“.

Skandal!
Die Lebensmittelskandale häufen sich, im letzten Monat warens zwei; im einen gings um Südamerikanisches Pferdefleisch, im andern um Chinesische Saucen und Gewürze.
Fälschungen und Betrug gibt es seit Menschengedenken. Bereits die Griechen sollen Wein gepantscht haben. Seit Lebensmittel industriell hergestellt werden kommen (nicht nur ungiftige) Geschmacksverstärker und Haltbarmacher zum Einsatz und mit dem Welthandel werden auch Lebensmittelskandale getradet.
Da war um Beispiel der Mélamin-Skandal 2008 in der Volksrepublik China. Das giftige Cyanamid ist wegen seinem hohen Stickstoffgehalt interessant: dieser wird gemessen um den preisbestimmenden Proteingehalt der Pulvermilch zu festzulegen. Doch als Melamin greift es die Nieren an. 300‘000 Kinder wurden krank. 52‘000 mussten ins Spital, wie viele an Nierenversagen starben ist nicht bekannt. Die Konsumenten verloren das Vertrauen, die Milchimporte explodierten. So hat die hiesige Milchindustrie vom chinesischen Betrug profitiert, aber als Konsumenten waren wir auch betroffen: China exportiert jährlich für über 5 Mia CHF Lebensmittel nach Europa; auch solche, die Milchpulver enthalten.

Herkunfts- und Produktebezeichnungen
Die Bezeichnung Dijonsenf bedeutet, das der Senf nach einem bestimmten Rezept gemacht wurde. Unabhängig davon, ob die dazu verwendeten Senfkörnern aus Indien, Kanada oder Australien kommen und in Deutschland oder Holland verarbeitet wurden, das Produkt darf als Moutarde de Dijon verkauft werden.
Die Bezeichnung Kräuter der Provence kann sehr wohl mit Thymian aus Albanien, Basilikum aus Ägypten, Rosmarin aus Tunesien gemischt werden: Hauptsache, sie besteht aus Kräuterarten, die in der Provence wild gedeihen.
Ditto für Burgunder Schnecken. Weinbergschnecken aus Russland, Littauen, Polen, Tschernobil und Umgebung werden, sofern sie nach Burgunder Art mit Knoblauch, Petersilie, Butter, Salz und Pfeffer gemacht sind, Burgunderschnecken genannt.
Heikler wirds bei Produkten wie dem Blaukäse aus der Auvergne: Bleu d’Auvergne ist eine Kontrollierte Herkunftsbezeichnung (AOP). Aber man kann ihn, gemischt mit Wasser, billigem Industriekäse, verschiedenen Milchbestandteilen und diversen E-nummerierten Zusatzstoffen als Schmelzkäse verkaufen, bei dem der Bleu d’Auvergne an prominenter Position aufgeführt wird…
Wobei Schmelzkäse ein offizieller Begriff ist und das Produkt aus mindestens 40% Trockenmasse bestehen muss. Will man den Käse noch mehr verdünnen oder ganz weglassen nennt man das Produkt einfach Käseschmelz .
Doch kritisches Etikettenlesen allein gibt den Konsumenten keine 100%-ige Sicherheit, dass sie wirklich das kaufen was sie wollen…
Zutaten, Zusätze und Verarbeitungshilfsstoffe
Die Warenmassen, die um die Erde geschoben, irgendwo verarbeitet, weitergeschoben, weiterverarbeitet, weitergehandelt und dann irgendwann irgendwo verkauft werden sind kaum vorstellbar. Bei jeder Etappe und bei jedem Formular das ausgefüllt wird, besteht die Möglichkeit, dass Information missinterpretiert wird, Angaben verloren gehen, Tippfehler passieren.
Buchautor Christophe Brusset erklärt, dass für jeden Artikel, den er für seinen Arbeitgeber gekauft oder gehandelt hat, eine Produktanalyse vorlag, die aufzeigte, dass das Erzeugnis sicher ist und alle obligatorischen Kontrollen durchlaufen hat. Doch es gibt keine Einheitssprache für diese Analysen und keine Absicherung dagegen, dass ein Produkt „unterwegs“ eine neue Herkunft erhielt, oder dass in der Analyse an entscheidender Stelle ein „Tippfehler“ passierte – und plötzlich aus einem Pferd eine Kuh wird.
Von den paar hundert bewilligten Zusatzstoffen in der Lebensmittelindustrie ist Wasser der beliebteste. Praktisch gratis erhöht er das Gewicht des Produkts und damit seinen Preis. Ist zum Beispiel das Jogurt zu teuer, gibt man einfach Wasser dazu, das mit Gelatine und modifizierter Stärke gebunden wird. Zwar handelt es sich jetzt nicht mehr um ein Joghurt und darf nicht mehr als Milcherzeugnis bezeichnet werden, aber ein „Milchpräparat“ ist es alleweil noch. Mit einem Regionalität-suggerierenden Namen gross auf der Verpackung verkauft sich das günstige Produkt fast von allein.
Allerdings haben Produkte mit zu hohem Wassergehalt eine kürzere Haltbarkeit. Deshalb werden ihnen oft Sulfite (E-Nummern 220-228) beigemischt: diese wirken antimikrobiell und antioxidativ …
Damit noch nicht genug: Es gibt ausserdem noch ein paar hundert „Verarbeitungshilfsstoffe“ die aus technologischen Gründen während der Be- oder Verarbeitung von Lebensmitteln verwendet werden. Synthetische Farbstoffe zum Beispiel gehören in diese Kategorie. Sollen sie nur Fehler maskieren ohne das Produkt selber zu verändern gehören sie nicht zu den Inhaltsstoffen – und müssen auf der Verpackung nicht gelistet werden müssen. Das einzige Kriterium für ihre Verwendung sei (immerhin), dass ihre Rückstände für die Gesundheit unbedenklich gelten müssen.
Kurz zusammengefasst: Aus Wasser, Strukturfestiger, Stabilisatoren und Konservierungsmittel, passend gefärbt und mit geeigneten Aromen geschmacklich verfeinert, kann man eigentlich alles “machen”.

Der Kunde bestimmt
Die Kunden der Lebensmittelindustrie sind eine handvoll Grossverteiler die gemäss dem Autor ihre quasi-Monopolstellung schamlos ausnutzen. Aus Prinzip refüsieren sie Preiserhöhungen, verrechnen fiktive Kosten und ziehen dann zum Jahresende nochmals bis zu 30% Retromargen ab. Wer an Grossverteiler liefert muss billig produzieren und wie in einer Spirale der Konkurrenz nachziehen. Nur die ganz Grossen können sich langfristig erfolgreich gegen diesen Druck wehren.
Hinter billigen Lebensmitteln stehen keine Betty Bossies und keine Annas die ihr Bestes geben, sondern Ingenieure, Chemiker und Broker, die in hochtechnologisierten Prozessen industrielle Produkte herstellen.
Beispiel Schinken
Die Schinkenscheiben, die wir beim Grossverteiler kaufen sehen immer etwa gleich aus und schmecken auch identisch. Das kommt so: Unter Druck wird mit grossen Nadeln, intramuskulös, ein Cocktail von Zusatzstoffen gespritzt – und das Volumen verdoppelt. Dann wird das Bein enthäutet und das Fett entfernt. Übrig bleibt der cocktaildurchtränkte Muskel. Er wird in eine Form gelegt, mit einer regelmässigen Fettschicht überzogen und dann mit der eigenen Haut wieder zugedeckt. Wird der Schinken für die Industrie aufbereitet und dort z. B. für Pizza verwendet, so wird das Schweinebein enthäutet, entbeint und entfettet, und der übrigbleibende Muskel mit allen gewünschten Zusatzstoffen möglichst homogen zu einem Einheitsbrei vermischt und in die gewünschte Form gegossen.
Romantische Vorstellungen über ein allfälliges Räuchern haben in der Lebensmittelindustrie keinen Platz: Modern wird flüssiges Raucharoma kostengünstig, schnell und ohne professionelles Personal in die Ware eingespritzt.
Beispiel Honig
Honig ist ein natürliches Antibiotika. Er kann bis 18% Wasser aufnehmen ohne zu alternieren. Gibt man mehr zu, wird empfohlen, das Produkt mit einem synthetischen Antibiotika zu stabilisieren. Ursprünglich wurde für die Honigqualität zu bestimmen einfach sein Gehalt von Fructose und Glucose gemessen. Doch diese können industriell hergestellt werden und wenn man ihre Mischung dann noch mit Karamel einfärbt sieht das Resultat aus wie Honig. Allerdings fehlt der Pollen… Gemäss dem „Canard enchaîné“ vom 1.10.14 ist mindestens 30% des Honigs der in Frankreich in die Läden kommt manipuliert und falsch deklariert.
Beispiel Süssstoffe
Fructose heisst nicht einfach Fruchtzucker: Fructose kann ein industriell aus Weizen oder Mais gewonnenes Produkt sein, das dank (genetisch manipulierter) Enzyme zu Glucose und dann zu Fructose umgewandelt wird. Das Resultat ist für die Industrie interessant, weil es viel süsser ist als Zucker aus Zuckerrüben oder –Rohr und weil Fructose und die Produktion von Ghrelin favorisiert, einem Appetit-stimulierenden Hormon. Das wiederum ist verkaufsfördernd …

Verpackungen
Kleider machen Leute und Verpackungen machen Ware. Speziell bei Industrienahrungsmitteln werden die Verpackungen genutzt, um mit Farben, Bildern, Namen und Slogans die Aufmerksamkeit der KonsumentInnen umzulenken.
Und die Verpackung selber?
Recycling tönt umweltfreundlich – wer könnte etwas gegen Verpackungen aus Recycling-Karton einwenden?! Doch Achtung: Recyclekarton wird aus altem Papier, Verpackungen, Zeitungen usw gemacht, die auch Lack, Druckerschwärze und andere nicht-konsumierbaren chemischen Moleküle enthalten, die -je nach Verpackung- in die Nahrungsmittel migrieren könnten. Neuer Karton ist lebensmitteltauglich. Auf der Verpackungsinnenseite ist er braun oder weiss, das Material ist resistent und homogen. Karton dagegen ist grau wegen Resten der Druckerschwärze, und lässt sich einfach zerreissen weil die Fasern während dem Recyclen gebrochen wurden.
Biologisch Abbaubar ist ein weiteres Zauberwort, auch in der Verpackungsindustrie.
Damit die Plastikverpackung nicht schon auf dem Ladengestell zerfällt wurde OXO-Plastik erfunden. Oxobioabbaubarer Plastik zerfällt innert 18 Monaten und bei idealen Bedingungen in winzige Molekularketten. Nur: dieser Staub besteht häufig aus synthetischen Polymeren und braucht Sauerstoff um abgebaut zu werden. Sogar im von der Oxo-Biodegradable-Plastics-Federation kontrollierten wikipedia-Eintrag steht: er „can be recycled during its useful life with normal plastic“.
Kleinste Plastikteilchen wurden bei diversen Tests schon ungefähr überall gefunden, in 100% der getesteten Honige (bio und konventionnel), Fischen und Meeresfrüchten, Puderzucker, …
Ist Packpapier ökologischer? Es ist nicht wasserfest, nicht luftdicht, nicht reissfest… aber plastikbeschichtet sieht es ökologisch aus. Auch wenn Papier und Plastik separat recylebar sind, mal zusammengeklebt bringt man sie nicht mehr auseinander. Verpackungen seien wie Politiker schreibt Christophe Brusset: sie halten selten was sie versprechen.
Ablaufdatum
Das Verbrauchsdatum (zu konsumieren bis…) ist nicht das gleiche wie das Mindesthaltbarkeitsdatum (meistens als zu verkaufen bis … gekennzeichnet), nach dem der Verkäufer keine Produktegarantie mehr übernimmt. Tee verliert sein Aroma, Gewürze ihre Farbe und Geschmack, aber gesundheitsschädigend sind sie deswegen nicht. Damit sie nach Ablauf des Verkaufsdatums nicht einfach zu foodwaste (= realisierter Verlust für die Produzenten) werden gibt es kleine Tricks. Zum Beispiel kann man das Verkaufsdatum auf den Deckel schreiben und das Produkt kurz vor Ablauf neu verdeckeln. Auf die Packung geklebte Etiketten oder sogar aufs Glas gedruckte Daten seien meistens Original: eine ganze Packung zu erneuern sei zu teuer im Vergleich zum machbaren Gewinn.
Made in China
Champignons, Knoblauch, Apfelsaft, Büchsenbirnen und Tomatenkonzentrat: die Volksrepublik exportiert für 5 Mia CHF Waren nach Europa. Jedes Jahr.

Die Hochpreisinsel Europa ist wegen ihren Salären und Sozialabgaben international nicht konkurrenzfähig, seit langem kaufen wir deshalb „made in China“ und anderswo. Es ist heute normal, dass man, je nach Währungs- und Steuerpolitik, die Produktion in andere Länder verlegt, wo die Bedingungen besser und das Personal billiger sind. Schon lange gibt es keine moralische Diskussion mehr über Relokalisierungen, es geht nur noch um die Maximierung der Profite. „Wie wollen Sie sich auf dem Markt behaupten, wenn Ihr Englischer Konkurrent die Produktion in die Türkei verlegt und Sie zwar lokal produzieren und bessere Qualität anbieten aber 20% teurer sind?“ fragt Chr. Brusset.
Alle Länder stehen miteinander im Wettbewerb. Arbeiter, die Mindestlöhne haben und Sozialversicherungen, verlieren ihre Stelle an Kollegen, die in Billiglohnländern 10 mal weniger verdienen. Denn die Transportkosten sinken seit 20 Jahren und sind schon bald vernachlässigbar: Heute bringt ein Frachtschiff mit einer einzigen Lieferung 18‘000 Container von Shanghai nach Hamburg! Ein einzelner Container zu schicken kostet da weniger als 1500 CHF. Der kg-Preis für so transportierte Ware erhöht sich grad mal um gut 5Rp! Mit der globalen Erwärmung ist absehbar, dass die Transportwege über die Nordpolroute führen könnten – damit würde die Distanz noch kürzer und die Transporte noch billiger.
Händler und Grossverteiler
Die KMU der Lebensmittelindustrie haben nur einen Abnehmer: die Grossverteiler. Und um über diese verkaufen zu können müssen sich die Lieferanten an Reklamebudgets beteiligen, Verkaufsaktionen unterstützen, Arriere-Margen akzeptieren, … denn kein Gesetz verbiete dem Grossverteiler, seinen Zulieferern irgendwelche „Dienstleistungen“ in Rechnung zu stellen oder ihnen missbräuchliche Strafgelder zu verrechnen.
Preiserhöhungen gingen hauptsächlich in die Kasse der Grossverteiler schreibt Chr. Brusset: 2/3 gehen direkt zum Grossverteiler, 10% zur Industrie und der Rest an den Konsumenten in Form von Coupons und andern „Neuen Promotions-Instrumenten“. Manch kleinere und auch mittelgrosse Firmen können diesem Preisdruck nicht standhalten. Sie werden zum Umzug gezwungen oder in den Ruin getrieben – woraus sie dann billig aufgekauft werden können.
Die Lebensmittelindustrie ist ein diskretes Business.

Zum Wohlbefinden der Konsumenten …
Ein paar einfache Grundregeln kristallisieren sich beim Lesen des Buches heraus:
- Beim Einkaufen auf möglichst kurze Handelsketten achten,
- Nur Lebensmittel mit wenig Inhalts- und Zusatzstoffen kaufen.
- Keine gemahlene Gewürze (weder Safran noch Pfeffer noch Paprika) kaufen, auch keine Trockensuppen, keine vorgefertigten Pürees, keine panierten Tiefkühlfische, kein Vanillezucker, keinen Beutel-Tee, keine Supermarkt-Eigenmarken mit ungenauer Etikettierung … überhaupt nichts eingepacktes dessen Etiketten nicht total eindeutig sind kaufen.
- Einkaufen und Essen ist ein politischer Akt. Wir haben die Möglichkeit, uns für eine transparente Kommunikation einzusetzen, gesundes Essen zu fordern und neue Inhalts-, Zusatz- und Verarbeitungsstoffe und Verfahren erst zuzulassen, wenn ihre Unschädlichkeit unbestreitbar nachgewiesen worden ist.
Weiterführende Links:
- Das Buch “vous êtes fous d’avaler ça” online →
- Friedrich Accum war der erste, der giftige Lebensmittelzusatzstoffe in der neu aufkommenden Lebensmittelindustrie thematisierte (1820 erschien „There is poison in the pot, A Treatise on Adulterations of Food and Culinary Poisons“) →
- Cyanamid →
- Verbindung Melamin →
- Foodwatch ist die einzige Organisation, die sich wirklich für die KonsumentInnen und gegen Lebensmittelschwindel einsetzt, alle andern hätten, so Autor Brusset, nie etwas nachgeforscht während den 20 Jahren, in denen er aktiv war →
- Fragen und Antworten zu Fleisch, das unter Schutzatmosphäre mit erhöhtem Sauerstoff verpackt wurde →
- Liste der Lebensmittelzusatzstoffe →
- Maissirup, ein „nicht gesundheitsförderndes“ Zuckerkonzentrat aus Maisstärke →
- Interview mit Christoph Brusset →

